Beobachtungen aus einer Schule ohne Schüler

Montagmorgen, 7 Uhr 50.

Es ist mal wieder ziemlich kalt, aber dafür dämmert es bereits im Osten.

Ich bleibe an der roten Ampel stehen. Etwas irritiert mich.

Ich bin so ... allein.

Links, rechts, vorne, hinten – keiner ist da.

Ihr liegt im Bett, ihr sitzt am Frühstückstisch, ihr starrt auf einen Bildschirm.

Mein Atem weht über die Kreuzung.

Grün!

 

Montagmorgen, 7 Uhr 55.

Schwungvoll sause ich um die Kurve und sehe an der Baustelle vorbei die leere Straße entlang.

Vereinzelte maskierte Gestalten vor dem Eingang.

Ich bin viel zu früh, weil ihr nicht in Scharen und über den ganzen Weg verteilt plaudernd und in nervtötend langsamen Tempo vor mir geradelt seid.

Fahrrad abstellen, Handschuhe ausziehen, Maske aufsetzen.

Fahrrad weiterschieben.

Ein, zwei, drei, vier Fahrradständer sind besetzt.

Gähnende Auswahl! Wo bleibt da der Nervenkitzel am frühen Morgen,

Das Gedränge, Gezwänge und Gestöhne –

 

Montagmorgen, 7 Uhr 58.

Oder ist heute Dienstag?

Der Stundenplan drückt sich hilflos und verloren in der Ecke.

Ich marschiere zur Eingangstür.

Der Vertretungsplan ist schwarz-weiß.

Das Gebäude schweigt.

Meine Blicke huschen durch jede Tür und in jeden Gang, um eine Menschenseele zu entdecken.

Von der Unsichtbarkeit des Schulalltags ist nichts mehr zu sehen!

In der Aula stehen 21 Tische mit 21 zerrupften Namensschildern in Reih und Glied.

Die vorderen auf dem Präsentierteller und die hinteren im Dämmerlicht der gedämpften Akustik.

Diagonales Schreien, um einander zu verstehen!

 

Mittwochmorgen, 8 Uhr 10.

(Es ist doch Mittwoch, oder?)

Wie schön, dass ihr alle da seid, wie schön es ist, Menschen zu treffen,

Euren Augen zu begegnen, wenn sie über das Meer zwischen uns schweifen und wir an unseren Tischen wie auf einsamen Inseln sitzen.

Schiff ahoi!

Ein Lehrer manövriert auf dem Ozean der Q2 und verteilt Rettungsbojen.

Kurs Abitur!

Ich melde mich: „SOS!“

– „Keine Hausaufgaben? Übermüdung? Frieren? Prüfungsangst? Pausensehnsucht?“

– „Nein, es ist... es ist so still.“

Wir lauschen. Es muss Sonntag sein!

Kein Lachen, Reden, Singen, Schimpfen, Schlendern, Rennen, Fragen,

Keine Schritte auf den Fluren und kein Türenschlagen,

Keine Fußspuren, kein Tischgekritzel, Stühlerücken,

Keine vorüber eilenden bekannt-ungekannten Gesichter –

Es knackt zur Pause.

Der Sportplatz verwaist.

Nicht die Eltern fehlen, sondern die Kinder!

Wer rennt mit einem Fußball über den Rasen,

Wer vergisst unter dem blauen Himmel die vorangegangene Stunde oder diskutiert sie?

Wo ist euer ausgelassenes Geschrei?

Schule ist Vielfalt, aber die Vielfalt stirbt.

Wir haben vier Stunden lang dasselbe Fach.

 

Donnerstag, 11 Uhr 30.

Wir verlassen das Gebäude.

Ja, es ist ein Gebäude, alt und würdevoll, schäbig, marode, missbraucht und geliebt, gefürchtet und in Ehrfurcht gehalten.

Es wartet auf euch.

Es sagt mir: „Nicht ich bin die Vielfalt, sondern sie.“

Und darum stirbt die Vielfalt nicht, denn ihr kommt wieder Irgendwann.

 

Kathrin Sereße, Q2ac

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